Dienstag, 16. Juni 2015

Du Heulsuse! Reiß dich mal zusammen!

by preussischer Widerstand






„Heul doch!“ „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ „Weinen macht hässlich.“ „Wein doch nicht wie ein Mädchen!“ Weinen ist ein Tabuthema. Sogar für mich. Lange Zeit rühmte ich mich sogar damit, dass ich noch nie in der Öffentlichkeit in Tränen ausgebrochen war. Schließlich habe ich so etwas wie Affektkontrolle. Meine nordische Mentalität verbot es mir geradezu zu weinen. Ich heul doch nicht wegen jedem Scheiß. Auch wenn man Frauen diesen Gefühlsausbruch mehr zubilligt, wollte ich nie in diese Klischeeecke gedrängt werden. Am Ende nimmt mich keiner mehr Ernst. Weinen ist unprofessionell. Allerhöchstens in meinen vier Wänden, wo es nur mein Partner mitbekommt. Selbst meine engsten Freunde haben dieses Vergnügen höchst selten mit mir gehabt.
Bis zu jenem Tag, wo ich auf offener Straße, nach einem ganz grauenhaften Tag, plötzlich die Fassung verlor und an einer Ampel zu flennen begann. Nachdem der erste Impuls der Scham verflogen war, wurde es mir dann langsam egal, was die vorbeigehenden Passanten wohl denken mochten. Mittlerweile glaube ich ja, man ist noch nicht wirklich in Düsseldorf angekommen, wenn einem das nicht einmal passiert ist. 

by preussicher Widerstand
Aber kann man eigentlich auch zu viel weinen? Diese Frage beschäftigte mich in der letzten Zeit häufiger. Mein Freund hat dazu folgende Ansicht: „Die Tränen müssen geweint werden. Du hast gar keine Wahl, wenn du dich beruhigen und weiter kommen willst. Wenn du sie zurück drängst, sitzen sie fest und blockieren dich beim Weitermachen.“

Zuerst war das für mich schierer Bockmist. Wer ständig heult, wird noch mehr heulen und immer tiefer in seinem Leid versinken. Dies muss unbedingt vermieden werden. Das war meine tiefe und völlig unhinterfragte Überzeugung. Klingt ja auch irgendwie logisch und vernünftig. Natürlich habe ich diese Überzeugung nicht selbst entwickelt. Sie entstammt einer Prägung aus meinem Elternhaus. Dort galt stets die Regel sich von schlechten Gefühlen irgendwie abzulenken. Am besten durch Arbeit. Weinen war zwar erlaubt, aber bitte nicht zu lange und zu intensiv. Trennung, Enttäuschungen, Misserfolge und Abschiede durften betrauert werden, aber es gab eine Grenze, wo das Verständnis langsam kippte. 

„Also wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich jetzt allen Leuten zeigen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse und ihnen demonstrativ zeigen, wie gut es mir geht. Lach doch mal wieder.“ „Aber ich bin noch nicht soweit.“ „Trotzdem kann du dich ja nicht ewig so hängen lassen.“ „Habe ich ja auch gar nicht vor. Aber ich kann mich ja auch nicht selbst belügen.“
Solche oder ähnliche Dialoge habe ich öfter führen müssen. Seitdem begleitet mich der Gedanke, dass ich zu viel weinen könnte. Aber wo ist die Grenze? Was bedeutet es überhaupt zu weinen?
Ich halte meinen Freund für ziemlich weise. Er wird nie müde mir zu sagen, dass jede Träne auf dem Weg des Lebens geweint werden müsse. Kritisch lege ich den Kopf schief. Ich bin nicht einverstanden mit dieser Aussage. „Aber die Tränen werden doch dann mehr!“ protestiere ich. „Man kommt dann da nicht mehr raus. Niemand mag Heulsusen und Trauerklöße. Am wenigsten bei sich selbst.“ Mein Freund lächelt wie Buddha. „Es wird nur schlimmer, wenn du glaubst, dass es schlimmer wird.“ Ah, diese bestechende Logik, die mir auf den ersten Blick total unlogisch vorkam.
Er geht davon aus, dass in solchen Fällen die eigene Einstellung darüber entscheidet, was für einen persönlich wahr ist. Ich sah dies eher aus der Perspektive der Gesellschaft. Aber irgendwann begann dieser Gedanke so sehr in mir zu arbeiten, dass ich meine eigene Einstellung nicht länger hinnehmen konnte. Ständig predige ich, dass ich nicht nur an eine Wahrheit glaube und dann lasse ich an dieser Stelle keinen Widerspruch zu?! Schließlich gab ich die Suchbegriffe „weinen“ und „schädlich“ bei Google ein und siehe da, es gab mehrheitlich die Meinung, dass weinen sehr gesund ist. Weinen reinigt die Seele. So heißt es im Volksmund. Ein Sprichwort, dass ich völlig vergessen hatte. Man kann nicht zu viel weinen. Selbst wenn man an einer Depression erkrankt ist, ist nicht weinen das Problem, sondern, dass man sich sehr schlecht fühlt. Letztlich ist es dann doch besser diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen, um gerade diesen inneren Stress abzubauen und wieder offen und frei für einen Entwicklungsprozess zu sein.

by preussicher Widerstand

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